Mitarbeit im Klanghaus Klein Jasedow
IMPROVISIERTE KAMMERMUSIK UND MITMACHKONZERT
Reinhard Gagel, Klavier - Klaus Holsten, Flöten - Cornelius Hummel, Violoncello
Dieser Abend ist einem zentralen Thema des Klanghauses gewidmet – der Musik aus dem Augenblick. Ihrer Entstehung geht das aktive Hinhören voraus – auf die Atmosphäre des Ortes, auf die Mitmenschen im Saal und auf der Bühne, auf den Augenblick, der aus der Zukunft auf uns zu kommt, auf die innere Stimme.
Die Musiker Reinhard Gagel (Klavier), Klaus Holsten (Flöten) und Cornelius Hummel (Violoncello) sind Improvisationsmeister in Performance, Lehre und Forschung. Mit dem reichen Ausdrucksspektrum ihrer gemeinsam erfundenen Kammermusik begleiten sie das Publikum auf einer Reise des Lauschens – von feinsten Nuancen zu ungeahnten Klangschönheiten und dramatischen Höhepunkten.
Nach dem gut einstündigen Konzert und einer angemessenen Pause laden die drei Improvisationsmusiker alle Zuhörerinnen und Zuhörer zu einem Mitmachkonzert ein. Mit den Instrumenten des Klanghauses und mitgebrachten eigenen Instrumenten entsteht eine „Sinfonie des Augenblicks” in drei Sätzen, wie sie viele in diesem Jahr zum Beispiel am Rande des Holundermarkts schon einmal kennengelernt haben.
Tonbeispiele aus dem Konzert
EUROPEAN ACADEMY OF HEALING ARTS
Weiterbildungsstudiengang Musik 2012/13 • Studienphase 2 • 25.–28. 10. 2012
Protokoll der Gruppenarbeit
Die Gruppenarbeit der zweiten Studienphase stand unter der Überschrift Neue Musik und Komposition. Nachdem wir uns am Donnerstagabend mit Cornelius Hummel bekannt gemacht haben, ergab sich aus den einzelnen Gruppenstunden am Freitagvormittag und –nachmittag ein durchgehender Fluss, der uns den Stundenplan so umstellen ließ, dass die Arbeit an der gemeinsam erarbeiteten Partitur bis zu ihrer zweimaligen „Aufführung” praktisch den ganzen
Samstagnachmittag und –abend in Anspruch genommen hat.
Im Sinnes dieses durchgehenden Flusses werde ich das Protokoll nicht in die einzelnen Unterrichtszeiten unterteilen sondern versuchen, den gesamten Entwicklungsprozess mit Worten noch einmal nachzuzeichnen. Eine das Thema sehr bereichernde Aktion, der Freitagabend mit Thomas, wird im Anschluss an das Kompositionsprojekt skizziert.
Wie entsteht eine Komposition?
Zunächst berichtet Cornelius von seiner Arbeit als Musiker, Improvisator und Komponist und arbeitet dabei den Unterschied und die Schnittstellen zwischen Improvisation und Komposition heraus.
Schon die ursprünglichen Wortbedeutungen zeigen den Unterschied:
Improvisus = unvorhergesehen
Componere = zusammensetzen, zusammenstellen (aber laut einem Internetwörterbuch auch: vereinen, sich ausdenken, ordnen)
Schnittstellen gibt es,wenn Improvisationen geplante Aspekte haben (Konzeptimprovisation, Spontankomposition) oder Kompositionen bewusst Freiräume lassen (Space Notation, grafische Notation, Spielanweisungen wie: „sinngemäß weiterspinnen”, „sehr hoch und schnell“, „so tief wie möglich”).
Komponisten wie zum Beispiel John Cage und oder Anestis Logothetis haben das Improvisatorische in die Komposition geholt. John Cage hat darüberhinaus mit seinen Spielanweisungen die Komposition und den Akt der Aufführung ad absurdum geführt, indem die Spielanweisung auch die „Nichtaufführung” in Betracht zieht oder ein ausschließlich zeitlicher Rahmen für das Schweigen mit oder ohne Instrument (4ʼ33ʼʼ) als Komposition angegeben wird.
Ein wesentliches Kriterium einer Komposition ist die Wiederholbarkeit, so dass eine möglichst genaue Notation – von der exakten Notenschrift bis zur Gebrauchsanweisung – eins der wichtigsten Handwerkszeuge dafür sind.
Grundfragen, die man sich als Komponist/in vor der Arbeit stellt, sind unter anderem:
Was möchte ich mitteilen?
Was klingt in mir?
Für wen schreibe ich – welche Spieler, welche Zuhörer?
Für welche Instrumente?
Wie ist der zeitliche Rahmen?
Für den Beginn der kompositorischen Arbeit skizziert Cornelius zwei polare Herangehensweisen:
Die Vogelperspektive: Man fühlt oder hört ganzheitliche Aspekte eines Musikstücks: Klang, Rhythmus, Melodie, Form, vielleicht sogar den gesamten
Verlauf oder zeichnet ein inneres Bild musikalisch nach.
Die Entwicklung aus kleinsten Bausteinen heraus, die motivische Arbeit:
Entwickeln, aneinanderfügen, modellieren, immer wieder feilen.
Anknüpfend an die grafische Partitur vom letzten Mal erläutert er, dass in diesem Stück das wesentliche formbildende Element der Wiederholung fast gar nicht vorkommt, dass sie aber einen interessanten formalen Aspekt hat: Der – auch grafisch am meisten hervortretende – Höhepunkt (Rufzeichen und dickster Kreis) teilt den zeitlichen Ablauf im Verhältnis 2:3.
In diesem Zusammenhang erwähnt Cornelius das Prinzip des goldenen Schnitts
und das damit zusammenhängende Proportionsphänomen der Fibonacci-Zahlenfolge (bereits im Jahre 1202 von dem italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci herausgefunden). Beata ergänzt die fraktale Formentwicklung nach Benoit Mandelbrod, der im Rahmen der Chaosforschung Gesetzmäßigkeiten unter anderem pflanzlicher und kristalliner Formern untersucht und mathematisch
definiert hat.
Nach dieser kurzen theoretischen Einleitung lädt uns Cornelius ein, ins
kompositorische Tun einzusteigen und lässt uns eine kurze Zeit (ca. 10 Sekunden)
„in uns hineinhören”.
Die Ergebnisse werden an die Tafel skizziert. Sie reichen von sehr detaillierten Angaben (z.B. vierstimmiger Flötenchor in schreitender Bewegung) genauen Notationen bis hin zu Beschreibungen wie z.B. Sphärenklänge und liedhafte Kinderstimme). Wir teilen uns in vier Gruppen auf und unterstützen uns bei der Ausarbeitung der Details. Einige der „erhörten” Motive sind mit anderen kombinierbar (z.B. eine eher als Untergrund empfundene Violoncello-Figur, die zwischen zwei Tönen hin und her pendelt zusammen mit einer Dreiton-Melodie, oder die einleitenden und variierten Kontrabasstöne mit den vier Flöten) und werden in den Gruppen zu mehrstimmigen Aktionen zusammengesetzt. Andere (wie z.B. die Kaskaden) erfahren eine detaillierte vierstimmige Ausarbeitung.
Wir versuchen herauszufinden, welcher Impuls hinter dem gehörten musikalischen Impuls stand, und erarbeiten, wie dieser klingen kann: z.B. sich verdichtende Wassertropfen. Wie lässt sich das Charakteristische davon auf ein Instrumentübertragen? Für eine Flöte ist der Wassertropfen z.B. eine etwas umständlichere und technisch herausfordernde Aufgabe, während der Streicherklang mit der Möglichkeit, ein schnelles Glissando zu spielen, sehr schnell nah ans Natur-Original kommt. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen Abbilden und Übertragen. Am Beispiel des Wassertropfen-Motivs zeigt sich auch, wie aus der Anschauung des akustischen und atmosphärischen Ereignisses von verschiedenen Wassertropfen die Brücke zu musikalischen Formen wie dem Kanon geschlagen und dann in der Komposition angewendet wird.
Bevor wir weiter an die Ausarbeitung der Motive und ihre formale Anordnung im zeitlichen Verlauf des in Entstehung befindlichen Stücks gehen, tragen wir zusammen, welche Gestaltungsmöglichkeiten wir in der Arbeit mit Motiven haben. (Gestalten im Sinne von Verändern, Vertiefen, Ausbreiten, Intensivieren etc.)
Motiv-Arbeit
Tonwiederholung (in der Melodie ebenso wie im Rhythmus)
Sequenzieren (Das Motiv erklingt in denselben Intervallen von einer anderen Stufe aus.)
Augmentation (Rhythmische Vergrößerung – das Motiv erklingt in der selben Proportion, aber z.B. nur noch in den halben Notenwerten – aus Vierteln werden Halbe etc.)
Diminuation (umgekehrt – aus Vierteln werden Achtel etc.), nicht zu verwechseln mit dem Begriff der Diminution, der in der bis zum Frühbarock für die Technik verwendet wurde, eine Melodie in immer kleineren Notenwerten zu verzieren
Spiegelung (Versetzen der Melodie in den denselben Intervallproportionen in die entgegengesetzte Richtung)
Krebs (Spielen der Melodie in umgekehrter Richtung)
Abspaltung (Verwenden nur eines Teils des Motivs)
Willkürliche Veränderungen, die die Gestalt verstärken, verzerren oder verfremden (Vergrößerung oder Verkleinerung der Intervalle bei Beibehalten
der Richtung)
Wechsel von Tongeschlecht oder Tonart
Wechsel der Taktart oder des Tempos
Veränderungen der Klangfarbe
Veränderung der Dynamik
Im Laufe der detaillierten Notation unserer Motive taucht immer wieder die Frage auf:
Wie genau muss meine Notation sein? In jedem Fall ist es sehr wichtig, sein inneres Gehör zu schulen, um die in sich gehörten Intervalle auch aufschreiben zu können.
Wie komme ich dahin, mein Motiv rhythmisch zu notieren?
Hat es einen Takt?
Hat es wechselnde Taktarten?
Hat es nur genau definierte Proportionen und Tempo, aber die Abstände zwischen den Elementen sind frei (Space Notation)?
Ist es nur ungefähr – z.B. über einem vorgestellten Sekundenpuls – angeordnet (Zeitstrahl)?
Was geschieht beim Musiker, wenn die Aufgabe zu kompliziert wird, was wenn die Anweisung zu ungenau ist?
Nachdem nun die Motive, soweit es in dieser kurzen Zeit geht, ausgearbeitet sind, beginnt der Prozess, sie zu einem zusammenhängenden Stück zusammenzustellen. Als großen Rahmen für das gesamte Stück breiten wir – so wie bei der Erstellung der gemeinsamen grafischen Partitur – einen langen Bogen weißes Papier aus. Die Motive, auf einzelne Blätter notiert, werden von der Gruppe, die sie entwickelt haben, so platziert, wie es ihrer Meinung nach für den Verlauf des ganzen Stückes sinnvoll
erscheint. Motive, die mehrmals erscheinen sollen, werden kopiert. Es entspinnt sich eine lebhafte Diskussion, was, wann, wie oft – und vor allem warum erklingen soll, denn es gibt ja unendliche Möglichkeiten, von denen am Ende nur eine stehen bleiben kann. Die Kriterien des Prozesses erleben wir auf verschiedenen Ebenen:
zunächst wird untersucht, was sich als Einleitung eignet, was als Schluss. Worauf zielt das Ganze hin, wo ist sind Höhepunkte? Was lässt sch überhaupt zusammenfügen. Dabei erkennen wir die Gefahr, sich im Kleinsten zu verlieren, und versuchen, sozusagen aus der Vogelperspektive herauszufinden, ob sich eine Form herausschält und was das Stück für einen Titel haben könnte.
Wir beobachten, dass es im Wesentlichen drei Elemente gibt: Sphärisches, Naturereignisse (Wassertropfen, Kaskaden) und Menschliches (verschiedene Melodien, ein Walzer, das mehrstimmige Schreiten). Das Stück scheint von einem Wechsel zwischen diesen weit voneinander entfernten Ebenen – der Blick in die Sphären und auf das Geräusch von Wassertropfen – geprägt zu sein, was Beata auf den Titel ZOOM kommen lässt. Klaus schlägt noch einen Untertitel vor: Mensch und Kosmos. Beides findet Resonanz und bleibt als Arbeitstitel stehen. Cornelius steuert den weiteren Verlauf, indem er bewusst macht, dass Formelemente wie z.B. die Dreiton-Melodie für Flöten und Violoncello, die an einer als wichtig empfundenen Stelle – am Beginn des letzten Drittels (Anklang an den goldenen Schnitt) erscheint, zu Beginn schon einmal anklingen sollten. Elemente, wie das sphärische Glitzern werden in unterschiedlicher Deutlichkeit an mehrere Stellen des Stückes platziert. Gerade dieses bewusste Wiederholen, das fast jedes Motiv des Stückes erfährt, lässt aus der Aneinanderreihung eine gefasste Form entstehen. Aber auch Erwägungen wie: Ist jeder als Spieler ausreichend beteiligt? Wie ist der Instrumentenwechsel zu bewerkstelligen? beeinflussen die Gestalt der Komposition. Im Verlauf der Arbeit scheint so die Komposition zu einer selbständigen Gestalt zu werden, die Fragen wie: „was verträgt sie an dieser Stelle?” fast aus sich heraus beantworten kann. Ein erwähnenswerter Aspekt ist der Umgang mit Zitaten. Das Motiv der indianischen Melodie zum Beispiel, fand seinen Platz ziemlich weit am Ende des Stückes, fiel aber mit seiner tonalen Direktheit etwas aus dem stilistischen Gesamtrahmen. So wurde es verkürzt, und durch Klingenlassen der einzelnen Melodietöne entstand ein Klang, der durch die Verkürzung und die klangliche Veränderung an Intensität und inhaltlichem Bezug zum Titel noch gewonnen hat und nun auch am Anfang noch einmal auftauchen musste.
Die Dynamik des gemeinsamen Gestaltens erfasst alle so, dass wir die Zeit völlig vergessen und fast vier Stunden am Stück zusammen arbeiten, bis das Stück in einer ersten Fassung fertig ist.
Zum Abschluss geht es um die instrumentale Umsetzung des entstandenen Musikstücks. Cornelius übernimmt die Rolle des Dirigenten, der technische Ablauf muss geprobt werden, aber auch die Anschlüsse zwischen Teilen, die rhythmisch frei und denen, die einen klaren Puls haben. Es entstehen zwei Aufnahmen und ein beglückendes Gefühl, an diesem Prozess teilgenommen zu haben.
(Klaus Holsten)
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